Mehr Pragmatismus, weniger Ideologie

Vorfreude: Am 22. Oktober wird Folker Hellmeyer der Gastredner auf unserer diesjährigen Mitgliederversammlung sein. Vorab nahm er sich die Zeit für ein Interview.

Folker Hellmeyer. Hamburger Jung und Kapitäns Sohn. Demzufolge sind dem 63-Jährigen hanseatisches Understatement und das Wissen, dass es hinter dem Horizont immer weiter geht, buchstäblich in die Wiege gelegt worden.

Aus dem Besten dieser beiden Welten hat er seine persönliche Lebensphilosophie entwickelt. Wie kein anderer versteht er es, harte Fakten ganzheitlich zu deuten. „Economy needs empathy”, lautet sein Motto. Nicht zuletzt deshalb wird er als einer der profiliertesten Volkswirte und Chefanalysten Deutschlands gehandelt. Und weil der Finanzexperte, nebenbei erwähnt, ganz wunderbar Frank Sinatra imitieren kann, setzt er bei seiner Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes auf „I did it my way“.

Aus seinem Erfolgsrezept macht er trotzdem kein Geheimnis. Daher vermittelt der Top-Banker komplizierte Zusammenhänge des Finanzwesens anschaulich und verständlich. Dessen ungeachtet verzichtet Folker Hellmeyer bei seinen Vorträgen, TV-Auftritten und in seinem wöchentlichen Podcast weder auf seine eigene Meinung noch auf persönliche Keynotes. In einer Zeit, in der übertriebenes Gendern und falsch verstandene political correctness das selbstständige Denken gerne reglementieren, eine intellektuelle Wohltat.

Übrigens, der gebürtige Hamburger kann nicht nur das amerikanische „old blue eye“ täuschend echt wiedergeben, sondern auch den ebenso blauäugigen blonden Hans von der Waterkant. Deswegen können wir uns angesichts des ebenso informativen wie inspirierenden Gesprächs mit Folker Hellmeyer ein bisschen Hans Albers nicht verkneifen und bedanken uns bei ihm mit einem „Jawohl, meine Herr’n, so haben wir es gern.“

Herr Hellmeyer, was fällt Ihnen spontan bei den Worten Politik und Häfen ein?

Als Hamburger naturgemäß die Hanse. Das Netzwerk der Häfen, das fest mit der Politik vertäut war.

Warum?

Als die Deutsche Hanse Mitte des zwölften Jahrhunderts gegründet wurde, hatten die Kaufleute nicht nur die organisierte Vertretung wirtschaftlicher Interessen im Sinn. Die Hanse stellte auf politischem und kulturellem Gebiet eine bedeutende Größe dar.

Aufs Hier und Heute bezogen, heißt das für mich, dass Häfen und Politik positiv korrelieren, wenn man einen gemeinsamen Kurs vorgibt. Die Bundesländer und ihre jeweiligen Häfen sollten nicht den Fehler begehen, sich untereinander Konkurrenz zu machen. Wenn man immer nur den Blick auf die eigenen Landesinteressen richtet, geht das an der Sache vorbei. Generell müssen wir uns vom Stammesdenken verabschieden. 

Was empfehlen Sie stattdessen?

Zuallererst müssen wir unterscheiden, wo der föderale Gedanke dem Gesamtinteresse entgegensteht. Man sollte die Befindlichkeiten ad acta legen und sich bewusst machen, dass man ein Gesamtpaket schnüren muss, um für Reedereien und Investoren eine attraktive Alternative zu Rotterdam und Antwerpen zu sein. Perspektivisch wird Wilhelmshaven aufgrund seines Tiefwasserhafens für Deutschland immer wichtiger, während Hamburg an Bedeutung verlieren wird. Dort sind die geografischen Wachstumsgrenzen ausgeschöpft.

Das freut uns natürlich.

An dieser Stelle muss ich jedoch ein „Aber“ einfügen. Wilhelmshaven wird als Anlaufhafen wachsen, aber nur im Duo mit Bremerhaven. Hierzu muss aus einer Rivalität eine Kooperation werden.

Bremerhaven weist allerdings momentan bei der Infrastruktur Vorteile auf. Den Appell der Wilhelmshavener Hafenwirtschafts-Vereinigung e.V., mit dem Bau der zweiten Ausbaustufe des JadeWeserPorts als Multi-Purpose-Hafen umgehend zu beginnen, halte ich folglich für richtungsweisend.

Die WHV e.V. fordert in diesem Zusammenhang eine zügige Umsetzung. Daran hapert es bekanntlich in Deutschland.

Leider. Das sogenannte Entbürokratisierungsgesetz verdient seinen Namen nicht. Es ist sprichwörtlich nicht mehr als ein Mückenstich auf einem Elefantenrücken.

Um in dieser Metapher zu bleiben, dies ist bei Weitem nicht die einzige Stelle, die bei uns juckt.

Stimmt. Neben einer ernstgemeinten Entbürokratisierung benötigen wir zwingend den Ausbau der Infrastruktur. Und zwar auf den Verkehrswegen genauso wie in der IT, um internationalen Standards gerecht zu werden. Außerdem müssen wir uns endlich eingestehen, dass unser Bildungssystem komplett versagt hat.

Woran liegt das?

Wer latent nivelliert, hat am Ende kein Niveau. Ein Armutszeugnis für ein Land, das einst als die Heimat der Dichter und Denker galt.

Gibt es weitere Juckepunkte?

Zu viele, um sie einzeln zu benennen. Zu den ökonomisch übelsten gehört unser leistungshemmendes Hochsteuersystem ebenso wie die enormen Energiekosten, die kontraproduktiv für unsere Wettbewerbsfähigkeit sind. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache.

Während die Weltwirtschaft richtig Fahrt aufnimmt, schafft die Bundesrepublik laut der jüngsten IWF-Prognose im Jahr 2024 lediglich 0,2 Prozent Wachstum. Damit sind wir erneut das Schlusslicht unter den großen Industrienationen.

Das war nicht immer so. Hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Entwicklung und strukturellen Aufstellung war Deutschland 2014 Nummer eins in Europa. Zehn Jahre später sind wir ähnlich wie Ikarus, der in seiner Selbstüberschätzung alle Warnzeichen ignoriert hat, komplett abgestürzt und belegen den letzten Platz in der Wachstumsstatistik.

Was haben wir falsch gemacht?

Die Erklärung liegt auf der Hand, wir haben die Leistungsphase gegen die Verwaltungsphase und die Leistungsgesellschaft gegen die Anspruchsgesellschaft eingetauscht. Man kann sagen, wir haben uns in unserem Wohlstand verzettelt und uns auf dem Bestandserhaltungsgedanken ausgeruht.

Aus diesem Laissez-faire heraus haben wir die Chancen der letzten Jahre verpasst. Mit dem traurigen Ergebnis, dass wir bei den Weltmarktführern unter den ersten 100 gar nicht mehr stattfinden.

Durch die verfehlte Politik der CDU unter Kanzlerin Angela Merkel und der jetzigen Ampel-Koalition ist Deutschland mittlerweile zu einem Belastungsfaktor für die EU und die Weltwirtschaft geworden.

Und nicht nur dort. Durch die Wetterwendigkeit unserer derzeitigen Regierung haben wir den größten Vertrauensverlust in unserer eigenen Gesellschaft und Wirtschaft seit 1949 zu verzeichnen.

Kann man diesen freien Fall überhaupt stoppen?

Ja, wenn die Politik ihr Wolkenkuckucksheim verlässt und sich den Lebensrealitäten in Deutschland offen und ehrlich stellt. Ein guter Demokrat muss schließlich immer ein guter Ökonom sein. Wohlstandsverlust macht den Menschen Angst.

Was wir aktuell dringend benötigen ist mehr Pragmatismus und weniger Ideologie sowie die Fähigkeit, einmal getroffene Gesetzesentscheidungen, die kontraproduktiv wirken, zu korrigieren. Vor diesem Hintergrund wünsche ich mir von unseren gewählten Vertretern des Volkes mehr Demut vor ihrem Amt und der damit verbundenen Verantwortung.

Wo hat Ihnen diese Demut beispielsweise gefehlt?

Bei Vizekanzler Robert Habeck und seinem Heizungsgesetz. Wie kann man sich als Wirtschaftsminister beim Demokratiefest anlässlich des 75. Geburtstags unseres Grundgesetztes öffentlich hinstellen und sagen: „Die Debatte um unser Gebäudeenergiegesetz, also wie heizen wir in Zukunft, war ja auch ehrlicherweise ein Test, wie weit die Gesellschaft bereit ist, Klimaschutz – wenn er konkret wird – zu tragen.“ Dieser „Test“ hat zu massiven Wertverlusten bei Altimmobilien geführt, ergo zu erheblichen Wohlstandsverlusten der Bürger, die eigene Immobilien besitzen.

Was mich eigentlich mehr erschüttert hat, war der mediale Umgang mit dieser Äußerung. Es gab Zeiten, da hätte die Presse nach einer derartigen Entgleisung den Rücktritt des Ministers gefordert. Stattdessen wird darüber einfach lapidar hinweggefegt. 

Von Politik bis hin zur Presse – die deutschen Eliten versagen momentan offensichtlich auf jeder Ebene.

Das kann ich so unterstreichen. Die Ignoranz, die in Berlin geübt wird, ist das Resultat von hausgemachten Echokammern.

Was verbirgt sich dahinter?

Ein abgeschlossener Raum, aus dem man kritische Geister sehr gezielt fernhält. Dazu zählen anders denkende Politiker genauso wie Experten und Journalisten.

Welche Auswirkungen hat das?

Große. Vor allem für das Selbstverständnis der Gesellschaft. Rot-grünes Gedankengut ist jahrzehntelang durch sämtliche Institutionen getragen worden. Daraus hat sich eine  Verschiebung der Wahrnehmungsachsen in der Öffentlichkeit ergeben mit dem Ergebnis, dass traditionell konservative und liberale Positionen heutzutage teilweise bereits als rechtsextrem eingestuft werden.

Gibt es eine Möglichkeit, dem entgegenzuwirken?

Nur durch einen klaren Kurswechsel. Weg von einer moralbasierten und hin zu einer gesetzesbasierten, pragmatischen Politik. Global betrachtet brauchen wir eindeutig mehr Toleranz. Alle Wertevorstellungen haben ihre Berechtigung. Ganz gleich ob christlich, jüdisch, islamisch oder buddhistisch. Es steht uns nicht zu, unsere eigene Moralvorstellung als Maß aller Dinge im Außenverkehr zu betrachten.

Wirtschaft, Wertegesellschaft und Weltoffenheit. So gesehen hat Deutschland ziemlich viel auf seiner To-Do-Liste zu stehen. Haben Sie einen Tipp, wie die Republik dies alles bewerkstelligen kann?

August Bebel, einer der Begründer der deutschen Sozialdemokratie, formuliert es für mich besonders treffend: „Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.“ Das sollten wir beherzigen.

In diesem Zusammenhang erinnere ich gern an den Wahlkampf von Willi Brandt vor 55 Jahren. „Wir schaffen das moderne Deutschland“, war damals der zentrale Slogan. In seiner Antrittsrede als Kanzler prägte er 1969 diesen Satz: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“.

Wenn unsere Politik bereit ist, ihre Echokammer zu verlassen, kann ihr die aktuelle Mammutaufgabe gelingen. Dafür muss sie freilich ihre bequemen Hauspuschen, wie wir Norddeutschen sagen, gegen Siebenmeilenstiefel eintauschen, um mit der Geschwindigkeit der Welt mithalten zu können.

Sind Sie zuversichtlich, dass dies klappt?

Grundsätzlich bin ich ein positiv denkender Mensch und halte es diesbezüglich mit Martin Luther: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“

 

Kurzvita

Seit April 2022 bekleidet Folker Hellmeyer (Jahrgang 1961) die Position des Chefvolkswirts bei der Netfonds AG. Zuvor war er von 2018 bis 2021 Chefanalyst der Solvecon Invest GmbH. Von 2002 bis 2017 fungierte er als Chefvolkswirt/Chefanalyst der Bremer Landesbank.

Davor war der Finanzexperte unter anderem für die Deutsche Bank in Hamburg und London tätig sowie Senior Dealer und Chefanalyst der Landesbank Hessen-Thüringen.

Parallel dazu ist Folker Hellmeyer als Kommentator des Geschehens an den internationalen Finanzmärkten unter anderem regelmäßig bei n-tv, Welt TV und anderen Sendern zu sehen.

Ebenfalls empfehlenswert ist sein 2008 erschienenes Buch „Endlich Klartext“. Darin wirft er einen Blick auf das US-Finanzsystem und die dazugehörigen Wirtschaftsdaten und setzt sich mit beidem kritisch und unterhaltsam auseinander. Noch heute hat sein Fachbuch nichts von seiner Aktualität eingebüßt-

Tipp: In seinem börsentäglich erscheinenden „Hellmeyer Report“ werden hochaktuelle Analysen und Prognosen zum Marktgeschehen sowie volkswirtschaftliche und politische Hintergrundinformationen und Einschätzungen pointiert aufbereitet zur Verfügung gestellt.

Der „Hellmeyer Report“ kann abonniert werden.

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